Im Jahr 1919 wurde in Japan erstmals der Wirkstoff N-methyl-alpha-Methylphenethylamin, kurz Methamphetamin, in Kristallform synthetisiert. Die Droge unterdrückt Müdigkeit, Hunger und Schmerzen, erhöht die Leistungsfähigkeit, gibt Selbstvertrauen und ein Gefühl der Stärke. Als „Pervitin“ wurde sie im 2. Weltkrieg millionenfach an deutsche Soldaten verabreicht. Erst 1988 wurde „Pervitin“ vom Markt genommen. Doch die synthetische und billig herzustellende Droge ist als „Crystal“ oder „Crystal Meth“ seit der Jahrtausendwende weltweit auf dem Vormarsch – und auch in Dessau-Roßlau ein Problem, das insbesondere junge Menschen betrifft. Mit einem speziellen Hilfsangebot soll Abhängigen in Dessau-Roßlau ein Weg aus der Sucht ermöglicht werden.
Crystal sieht harmlos aus. Doch die Einnahme der durchsichtigen bzw. weißen Kristalle kann verheerende Wirkung haben und extrem schnell zu einer psychischen Abhängigkeit führen. Durch regelmäßigen Konsum entsteht eine Toleranz, die eine stetige Steigerung der Dosis zur Folge hat. Crystal gehört zu den am schnellsten zerstörenden Drogen überhaupt, gleich nach Heroin, Crack und dem – aufgrund seiner Legalität ungleich weiter verbreiteten – Alkohol. Schwere psychische und körperliche Schäden sind fast unweigerlich die Folge.
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Hinzu kommt, dass Süchtige die öffentlichen Hilfsangebote nur selten annehmen oder sie gleich ganz ablehnen. Das Misstrauen gegenüber Behörden und Institutionen ist groß, das Eingeständnis, ein Suchtproblem zu haben, schwer. Um Crystal-Konsumenten dennoch zu helfen, wurde in Halle das Projekt „Checkpoint-C“ ins Leben gerufen. Hier bieten Medizinstudenten und Studenten der Sozialen Arbeit eine anonyme Sprechstunde an, in der sich Betroffene medizinisch checken und sich über weiterführende Hilfen informieren können. Bei einem Besuch des Projektes durch die Suchttherapeutin des Diakonischen Werkes Bethanien Dessau-Roßlau entstand die Idee, auch in der Doppelstadt ein ähnliches Angebot aufzubauen.
Anonyme Sprechstunde in Halle als Vorbild für Dessau-Roßlau
Der Crystal-Konsum in Dessau-Roßlau ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Damit wuchs auch hier die Zahl der Süchtigen – ohne, dass es in der Stadt ein adäquates Angebot gab, das das Phänomen Crystal und die damit einhergehenden Folgen für die Konsumenten umfassend in den Blick nahm. Die Integration dieser besonderen Zielgruppe in die Beratungsstellen gestaltete sich äußerst schwierig, wie auch die regelmäßigen Arbeitstreffen zwischen den städtischen Streetworkern und der Suchtberatungsstelle Bethanien bestätigten. Streetworkerin Renate Stark und ihre Kollegen nehmen daher auch beim im Jahr 2015 ins Leben gerufenen Turnhallenprojekt „Bewegung ist Belebung“ eine Schlüsselrolle ein.
Die Straßensozialarbeiter und -arbeiterinnen warten nicht, dass Hilfesuchende zu ihnen kommen. Sie gehen direkt dorthin, wo Betroffene zu finden sind und suchen das Gespräch. An öffentlichen Plätzen, an Straßenecken, in Parks, aber auch über das Internet nehmen sie Kontakt zu Betroffenen auf. Sie begleiten, vermitteln, geben Hilfe zur Selbsthilfe, klären auf, bauen Vertrauensverhältnisse auf und Schwellenängste ab. So werden sie zu Bindegliedern zu den herkömmlichen Diensten und Einrichtungen – und zum Turnhallenprojekt.
Turnhallenprojekt „Bewegung ist Belebung“
Seit 2015 wird bei „Bewegung ist Belebung“ im Zeitraum von Oktober bis April jeden Mittwoch von 15 bis ca. 17 Uhr in die Turnhalle des Diakonischen Werkes Bethanien am Albrechtsplatz 18 eingeladen. Anfangs standen hier mit einem Präventionsmitarbeiter der Polizei Vertrauensübungen im Mittelpunkt. Nach dessen krankheitsbedingtem Ausscheiden wurde in Oliver Hofmann, dem Inhaber der auf Selbstverteidigung und Gewaltprävention spezialisierten EWTO-Schule, ein beständiger Trainer und Partner gefunden. Denn so unbeständig die Zielgruppe aufgrund ihres Drogenkonsums selbst ist, so wichtig ist eine feste Bezugs- und Vertrauensperson als Trainer. Die Mitarbeiterin des Diakonischen Werks, Streetworkerin Renate Stark sowie eventuell weitere Kollegen sind aktiver Teil der Trainingsgruppe und führen alle Übungen gemeinsam mit den Jugendlichen durch. Im Anschluss tauschen sich alle Teilnehme über das Training aus, bei regelmäßigen Besuchern wird außerdem der Trainingsfortschritt reflektiert. Auch darüber hinaus gehende Hilfsangebote sind natürlich jederzeit möglich, von der kurzfristigen medizinischen Hilfe bei durch die Droge verursachten psychotischen Episoden bis zur Vermittlung stationärer oder teilstationärer Behandlungen. Immer jedoch auf freiwilliger Basis und mit niedrigschwelligem Ansatz , als Hilfe und Unterstützung der Betroffenen.
Ziel des Turnhallenprojektes „Bewegung ist Belebung“ ist es, gesundheitsorientierte Freizeitgestaltung mit gemeinschaftlichen Aktivitäten zu verbinden. Selbstwertgefühl und Problemlösungskompetenz der Teilnehmer sollen gestärkt, Konsummuster aufgebrochen und „entschärft“ werden. Die Jugendlichen lernen, quasi nebenbei, die Angebote der Suchtberatungsstelle sowie weitere Hilfsangebote kennen. Wissenschaftliche Studien zeigen außerdem, dass regelmäßige sportliche Aktivität Entzugserscheinungen lindert, depressive Symptome verringert und die Wahrscheinlichkeit, dauerhaft abstinent zu bleiben, deutlich erhöht. Und nicht zuletzt werden Jugendliche, die so den Absprung aus der Drogensucht schaffen, auch zu Multiplikatoren, die ihre Erfahrungen an betroffene Altersgenossen weitergeben können.
Und das Konzept geht offensichtlich auf: Inzwischen hat sich „Bewegung ist Belebung“ so gut etabliert, dass nicht nur direkt Betroffene regelmäßig in die Turnhalle am Albrechtsplatz kommen. Auch Jugendliche, die gerade keine Suchtprobleme haben, in ihrem sozialen Umfeld aber suchtgefährdet sind, trainieren hier gemeinsam.
Finanziert wird das Turnhallenprojekt durch Fördermittel und Spenden, für die Teilnehmer ist es kostenfrei . Anmeldungen sind nicht erforderlich, auch Kinder dürfen mitgebracht werden. Auf ihrer Facebook-Seite gibt Streetworkerin Renate Stark die Termine zudem dauerhaft bekannt und wirbt auch in ihrer täglichen Arbeit für das Projekt. Nur eine Bedingung müssen Interessierte erfüllen: „Nur erstmal zuschauen“ ist nicht möglich. Mitmachen ist angesagt. Damit sich die Teilnehmer nicht wie unter Beobachtung fühlen und damit der positive Effekt schon beim ersten Besuch auch für „Neulinge“ direkt erlebbar wird.